18. Mai 2018
Das Wohnzimmer ist ein kleiner Raum eingebettet in die große Kuppel der Markthalle. Eine kleine Bühne, Stühle, Sessel, ein paar Tische. Es ist Freitag Abend, die Markthalle rappelvoll, es hallt ins Wohnzimmer rein und wenn ich die Augen schließe, klingt es wie an einem Sommertag im Park.
„Wildwuchs unterwegs“ heißt das neue Format der bekannten Basler Biennale, die ab Mai 2018 auch außerhalb des Festivals kleinere Veranstaltungen organisiert, um mit dem Publikum in Kontakt zu bleiben und Begegnungen zu ermöglichen. Und wieder geht es um Menschen, die nicht oder noch nicht berühmt sind, die zwar ,am Rand der Gesellschaft’, aber dennoch mitten im Leben stehen, mit ihren Geschichten inspirieren.
Die heutige Autorenlesung ist die erste Veranstaltung des neuen Formats: Zwei Menschen, die schreiben, um zu überleben. Schreiben als andere Sichtweise auf die Welt, als Möglichkeit zu verstehen, als Notausgang, als Blitzableiter, als Erste-Hilfe-Werkzeug.
„Unterschiedlicher könnten sie kaum sein“, so sagt man doch. Wahrscheinlich könnten die beiden Autoren heute Abend es schon, aber ähnlich sind sie sich gar nicht. Wildwuchs ist ja eben nicht genormt. Er mit dem firmeneigenen schwarzen T-Shirt, lange weiße Ärmel darunter, mit seinem untersetzten Kopf, nicht besonders groß, gedrungen könnte man sagen, nicht dick, aber kräftig, hat auf den ersten flüchtigen Blick die Ausstrahlung eines Rockers, abgekämpft, an der Oberfläche hart, tiefer komme ich nicht, weil sie mein Blick auf sich zieht: klein und zierlich, zerbrechlich denke ich, aber nur fast, denn schwach wirkt sie nicht; die kurzen Haare burschikos, ein zartes Mädchen mit Zauberkräften – eine Wolkentänzerin.
Im kurzen gegenseitigen Interview schälen sich auch unterschiedliche Ansätze und persönliche Impulse des Schreibens heraus. Der Maler, Turner und Psychiatrie-Erfahrene Martin Born schreibt nicht gern am PC, tippt nach dem Schreibprozess – notwendigerweise – alles einfingrig in seinen Blog. Sarah Altenaichinger, die Basler Germanistik- und Psychologiestudentin, dagegen meint mit verlegenem Lächeln „Ich kann nur am Laptop schreiben…“
Die dann vorgetragenen Texte hingegen, so unterschiedlich sie auch sind, entlarven ein Merkmal, das beide mehr als alles Äußerliche vereint: eine Sensibilität für den Augenblick, eine Fähigkeit, die persönlichen Gedanken- und Vorgänge ins kleinste Detail einzufangen und so zu beschreiben, dass Persönliches nicht Selbsttherapie bleibt, sondern Kunst werden kann, die – überpersönlich – auch Andere angeht.
Aber auch hier sind sie unterschiedlich. Sein Text, laut eigener Aussage unter postpsychotischem und Alkohol-Einfluss: die minutiöse Aufzählung des Versuchs, online eine Reiseverbindung herauszusuchen, beim Zuhören ist fast ein Druck auf dem eigenen Gehirn spürbar, ein zwanghaftes Sich-selbst-an-alles-erinnern, ein monotones Protokoll des eigenen Tuns (um Ordnung zu schaffen?):
„iphone gucken. 9:44 schreiben. beim hochgucken 50 minuten zeit schätzen. etwas hinlegen wollen. aufstehn. mit den händen in den hüften nach links unten schauen. hinsetzen vor schreiben einfügen wollen. gar nie geschrieben meinen. auf den balkon wollen. machen. stift auf. rülpsen. wollen, müssen, planen, schreiben. an sollen denken. stift zu.“ (machen. 08)
Bei Sarah Altenaichinger ist der konkrete Moment in eine taumelnd musikalische Beschreibung der Entstehung eines Textes, ein traumwelthaftes Fast-Greifen seines Impulses, seiner Manifestation. „Ein Plädoyer für das Schreiben, den Stift, das Papier und die Zeichen dazwischen“ ist ein rhythmisiertes Bild, keine Geschichte.
Sie ist eine Wortzauberin, keine Frage, ihre Sanftheit, ihre zart schimmernde Stimme greift um sich und erobert die Zuhörer durch die Freigabe einer Hoffnung, die sich als Unterton-Bild, als Generalbaß zwischen den Zeilen, manifestiert: ein verletzlicher, vielleicht sogar verletzter Vogel muss seine Freiheit dennoch nie einbüßen. „Du begreifst: du bist vielleicht allein in der Welt, aber nicht hier [zeigt auf ihren Kopf] und auch nicht hier [zeigt auf ihr Herz]. Und ich, ich sitze wahrgeworden neben dir.“
Diese Stärke und Würde brauchen wir alle.
Und zu Hause angekommen, weil ich inspiriert bin, und weil ich selbst von Kindheit an Worte und Wörter brauche, um die Schnittstellen zwischen Innen und Außen, zwischen mir und der Welt zu begreifen, versuche ich mich auch. (Wenn nur alle Lesungen dies vermochten!) Ich bitte um Gnade – es ist mein erster Versuch dieser Art: