Im September war es mal wieder soweit: das Aushängeschild für Basels herausragende Stellung in der Schweizer Musikszene hat drei Tage lang an über 30 Orten posaunt und trompetet.
KlangBasel klingt hauptsächlich im Kleinbasel. In Brockenstuben, Privatwohnungen, Hotelzimmern, auf der Fähre und der Traminsel; mit gewagten Ideen hat das Organisationsteam nicht gegeizt und – Chapeau! – diese auch möglich gemacht. Die ganze Altstadt dehnt sich zu einem überdimensionalen Konzertraum aus, in den es hinein- und wieder heraus schallt. Es ist schwer zu beschreiben, ohne in bemühte Aufzählungen zu schlittern, so beispielsweise der Flyer: „Mit Flügel und Fagott, Bass, Banjo und Bariton, von der Laute bis zu deutlich Lauterem.“ Klar, heutzutage auf sich aufmerksam zu machen, ist schier unmöglich, vielleicht müssen deshalb solche a-literarische Alliterationen aufs Papier. Dabei hat KlangBasel das wirklich nicht nötig.
Menschenmengen warten Schlange, plaudern vor den Konzertorten und schauen angestrengt auf das lange Programm – mit einem Festivalpass kann ich alle Konzerte anhören. Theoretisch. In der Praxis bedeutet es vor allem Freizeitstress und Konsumverhalten: so viel wie möglich in so kurzer Zeit wie nötig. So habe ich es in der ersten Ausgabe 2014 gemacht. Die zweite in 2016 habe ich verpasst. Dieses Mal habe ich bewusst minimalistisch gewählt.
Violinmantra von Malwina Sosnowski verbindet Minimal Music mit Barock und dem Gayatri Mantra. Malwina ist ja derzeit eine recht bekannte Schweizer Violinsolistin, wird als profund und talentiert gerühmt. Ich fand sie vor allem experimentierfreudig, sich über Rahmen und Grenzen hinwegsetzend, sehr gesittet in ihrer Rebellion wohlgemerkt, aber Schwamm drüber.
Crossover ist zwar auch in der sogenannten E-Musik lange nichts Revolutionäres mehr, aber doch jedes Mal erfrischend, klassisch ausgebildeten Musiker*innen zuzuhören, wenn sie sich aus dem Fenster lehnen oder stürmisch das Gebäude verlassen. Die Stimmung im Rauchersalon des Hotel Krafft ist familiär, Kissen auf dem Boden sind zwar auch nichts Neues mehr, aber gern genutzt vor allem im zweiten Teil, wo die Geigerin eines der bedeutendsten Hindu-Mantras 108 Mal abwechselnd singt oder spielt. ‚Aufgeschnappt‘ hat sie es wohl auf ihrer Indien-Reise. Hier würde ich meine Erzählung über diese halbe Stunde am liebsten beenden, aber ich kann nicht, weil ich nachdenken muss, und das tue ich nun mal am liebsten schreibend: 1. Warum, wieso, weshalb muss nun jede und jeder Mantren rezitieren, singen und spielen? Weil es hip ist? Weil es einen selbst (und die Zuhörer, die Krishna sei Dank mit Kissen versorgt waren) in einen schlummerartigen Zustand versetzt? Aber dann ist das Privatvergnügen oder -therapie und die Frage drängt sich auf, ob das auf eine Bühne muss… Oder gehört es mittlerweile zum guten Ton der Klassik-Szene, dass man Offenheit demonstriert und ‚Weltmusik‘ macht? Und verdient eine Melodie, in kreuzbeiniger Sitzposition 108 Mal wiederholt, dieses Etikett? 2. Es klingt nicht schön: der Salon schluckt jeden Hall. 3. Es ist etwas schnöde: kein Hauch der Zeitlosigkeit und Spiritualität indischer Musik, kein Staunen und Anbeten, nicht mal ein bisschen authentisch indischer Kitsch, ein westlich verkonsumierter höchstens. 4. (Aber das führt wirklich zu weit:) Früher war dieses Mantra nur Gläubigen aus höheren Kasten erlaubt. Jetzt singt es die ganze Welt. Gut, das lasse ich mal so stehen. Ich stelle mir nur vor, dass ein Hindu das Ave Maria singt oder das Vater unser rezitiert. Ich glaube nicht an den culture clash, und ja, kulturelle Identitäten dürfen aufgebrochen und neu gedacht, offener, verwundbarer werden. Man kann dieses Unterfangen aber auf klügere Art angehen. Die Berührung mit anderen Kulturen dient in meinen Augen dazu, die eigene Kultur in Frage zu stellen, vielleicht schärfer zu definieren und gleichzeitig offener zu machen. Es geht kaum darum, mir eine total fremde Kultur und Jahrtausende alte Religion zu eigen zu machen – wie soll das auch (gut) gehen? Malwina Sosnowski führt es vor: Sie erklärt die 108-malige Wiederholung mit den 108 Lehren Buddhas, aber was hat der Buddha mit einem Hindu-Mantra zu tun? Das Bedenkliche dabei: niemand hinterfragt, jeder nimmt es hin. Setze unter einen schlauen Satz Buddha oder Rumi, wenn du likes und shares horten willst. Der Versuch, Grenzen durchlässiger zu machen, bedeutet nicht, dass ich Unterschiede eliminiere und blind darüber hinweg gehe. Das hat eine Wischi-Waschi-Pseudo-Globalisierung und kulturelle Orientierungslosigkeit zur Folge, die uns manipulierbar und nicht unbedingt toleranter macht. Aber Entschuldigung, liebe Malwina, das hat nichts mit deinem Spiel zu tun. Wenn ein Konzert eine solche Lawine an Gedanken auslöst, dann war es in jedem Fall von Nutzen.
An diesem Abend geht es weiter zu den Voces Suaves, acht historisch informierte junge SängerInnen, die mit dem Programm „Das Madrigal verzaubert Europa“ wahrlich Zauberhaftes vollbringen. Ich bin erklärte Instrumentalistin und bekenne mich dazu, dass mich reine Vokalmusik oft ein wenig kühl lässt. Gib mir feine Kammermusik, eine süffige Sinfonie (Alliteration ungewollt) und ich schmelze dahin. Aber bei diesen weltlichen Renaissance-Liedchen, unbedingt in dieser Interpretation, von diesen acht jungen Menschen: zwischen Schaudern und Andacht, hingerissener Verliebtheit und kindlichem Staunen schwinge ich mich in eine andere Welt. Ohne theatralisches Getue und Gehabe, durch feine Rhetorik und perfekt aufeinander ausbalancierte Stimmen bauen die Voces Suaves ein Meisterwerk musikalischer Renaissance-Architektur. Klarheit und Schlichtheit, gepaart mit Herzlichkeit und raffiniertem Witz, sind die Spielelemente des Ensembles. Nach einer Stunde gehe ich erfüllt, gewärmt und leichtfüßig heim.
Am nächsten Tag wird es dann wirklich ‚weltmusikalisch‘. Zunächst ein kleiner Abstecher in den sonnenverwöhnten Innenhof der Stiftung Habitat. Hier hämmert und schlägt ein Orchester aus allerlei Gongs und Metallophonen Gamelanmusik aus Bali. Dazu die anmutig würdevollen Bewegungen einer Tempeltänzerin. Verlockend fremd und geheimnisvoll, aber wieder: nicht in die Tiefe gehend, mehr so Picknick-zwischendurch-Atmosphäre. Es ist recht, das macht das Festival ja aus, dass es vielfältig ist, was Anspruch, Geschmack und Stilrichtungen betrifft.
Tänzerin des Gamelangruppe
Ich hatte mal einen weit gereisten Freund, der mir eine CD mit westafrikanischer Musik mitbrachte. Als der Freund mich verliess, geriet die CD bei einem Umzug in Vergessenheit.
„Wüstenblues und Barock“ enthüllt mir die unwiderstehliche Schönheit der Musik aus Mali aufs Neue und ich werde Zeugin jener Grenzen-Erweiterung, von der Gelegenheitsweltmusiker nicht zu träumen wagen. Das Unaufgeregte, Kleinformatige besticht wieder einmal durch technische Virtuosität, die unprätentiös daher kommt und künstlerische Gestaltungsliebe, die sich selbst genügt. Im kleinen Saal des Zentrums für Afrika-Studien mit Blick auf den Rhy sitzen Paul Hanmer am Klavichord, Derek Gripper an der Gitarre und Hopkinson Smith an der Laute. Derek Gripper hat einen (eigentlich unmöglichen) Weg gefunden, die Musik der mit beiden Händen gezupften westafrikanischen Stegharfe Kora für Gitarre zu transkribieren. Und nun entlockt er seinen Saiten diese gestochen scharfen, dann wieder Melancholie gefüllten Klänge, zusammen mit dem Jazzpianisten Hanmer, der ganz bescheiden das Klavichord zur Kora, Gitarre oder Harfe moduliert oder modelliert, wahlweise und mühelos. Die Laute von Hopkinson Smith, die natürlich weder in den Stil noch in die Zeit dieser Musik passt, explodiert wie die Gaumenfreude durch ein unerwartetes Gewürz in einem wohl bekannten Gericht. Musik, die erfrischt und satt macht.
Satt hin oder her, einen Dessert-Happen muss ich mir am Abend noch gönnen. Lisette Spinnler und ihr Quartett machen im Jazzcampus genau das, was ich mir erhofft hatte.
Es ist wie bei Schokolade, die geht auch immer noch irgendwie rein… Wenn ich sage ‚zartbitter mit Whisky-Füllung‘, muss ich nichts mehr erklären, oder? Ähnliches gälte für Frau Spinnler. Für jene, die sie noch nicht kennen, sei dieser Nachtrag: Sie ist ein Wirbelsturm aus weiblicher Urkraft und feenhafter Zartheit. Sie macht mit ihrer Stimme und somit mit ihrem Publikum, was sie will. Sie kann dich fesseln, durchschütteln, verführen oder abstossen. Jedenfalls garantiert ist die ganze Bandbreite an wilden bis traumähnlichen Klängen und Stimmungen, die irgendwie zu Jazz gehören, aber sich eigenwillig jeder Schublade entziehen, satter Kontakt mit der Erde und ein Umgang mit Lauten und Sprache, die die eigenen Freude am Experiment entfachen und – wieder einmal – Grenzen neu definieren.
Conclusio aus fünf von über 100 Konzerten: Basels Musikszene ist aus- und einladend bunt und kreativ – man möchte tanzen, pfeifen und mitspielen. Danke KlangBasel!